„Normal“ geht anders!

Zur psychotherapeutischen Vernachlässigung von Substitutionspatient*innen in Berlin

10. Oktober 2018

Ein von unseren Kolleg*innen Antje Matthiesen, Fachbereichsleitung für psychosoziale Betreuung, Arbeit + Beschäftigung sowie für Frauen-Projekte, und Dr. Bernd Westermann, verantwortlich für Projektentwicklung und Fortbildung, veröffentlichter Beitrag in den aktuellen Kammerbriefen der Psychotherapeutenkammer Berlin. Es geht um das gravierende Versorgungsdefizit von Substitutionspatient*en in der Psychotherapie.

Wie konnte es – wider besseres Wissen – dazu kommen, dass ein gravierendes Versorgungsdefizit nicht behoben, sondern fortgeschrieben wurde, mit der Konsequenz eines Rückstandes von einem Vierteljahrhundert ?!

Immerhin Programmatik
Es ist inzwischen schon fünf Jahre her, dass die Berliner Psychotherapeutenkammer nach intensiver Beratung ein „10-Punkte-Programm zur psychotherapeutischen Versorgung in Berlin“ veröffentlichte. Im Punkt 3 werden auch „Drogen- und Suchterkrankte“ als (nicht die einzige) „unterversorgte Patientengruppe“ explizit benannt. „Stärkung der Patientenrechte“ und „stärkere Orientierung an den Bedürfnissen der Patienten“ werden ebenso hervorgehoben wie unter Punkt 4 der „Ausbau der sektorenübergreifenden Zusammenarbeit im Bereich der Psychotherapie“. Erwähnung findet, dass im Rahmen erster IV-Verträge zunehmend versucht werde, auch Psychotherapeut*innen und psychotherapeutische Interventionen im Kontext zu psychiatrischer, sozialpädagogischer und pflegerischer Versorgung einzubinden. Das alles klingt nicht verkehrt, sondern geradezu wundervoll aus Sicht der Drogen- und Suchthilfe. Allerdings hat es bislang leider herzlich wenig mit der tatsächlichen Versorgungssituation zu tun.

Die aktuelle Ausgangslage in Berlin
In Berlin gibt es ca. 8- 10.000 opiodabhängige Menschen, von denen sich 5.500 in einer kassenfinanzierten Substitutionsbehandlung befinden. 40 bis 45 % davon werden parallel bei freien Trägern der Drogen- und Suchthilfe in verschiedenen Setting psychosozial betreut (finanziert als Maßnahme der Eingliederungshilfe gemäß SGB IX / XII). Durch diese unter günstigen Voraussetzungen gut miteinander abgestimmten Leistungen von niedergelassenen Mediziner*innen und Sozialpädagog*innen kann in sehr vielen Fällen eine nachhaltige basale Stabilisierung unterstützt werden. Wie die wissenschaftliche Untersuchung des Langzeitverlaufs von Substitutionsbehandlungen nachweist, wird ein großer Teil der Behandlungsziele erreicht, sogar im fortgeschrittenen Behandlungsverlauf werden noch positive Statusveränderungen bewirkt. Allerdings gibt es auch deutlich benannte Defizite, also Nachbesserungsbedarfe: Was die Behandlung psychischer Grund und Begleiterkrankungen betrifft, geschieht deutlich zu wenig, dadurch können Stabilität und Lebensqualität massiv gefährdet sein. Schwerwiegende komorbide psychische Störungen sind in dieser Patientengruppe eher die Regel als die Ausnahme. Bleiben sie unbehandelt, läuft auch die Substitution letztlich „ins Leere“. Für Berlin gehen wir nach über zwei Jahrzehnten Erfahrung davon aus, dass ca. 10 bis 15 % der Substitutionspatient*innen von einer Psychotherapie profitieren könnten, diese jedoch nicht erhalten!!! Fast zwei Jahrzehnte laufende Bemühungen, einzelne niedergelassene Psychotherapeut*innen direkt oder z. B. über die Ausbildungsinstitute anzusprechen und wenigstens für Therapie-Versuche zu gewinnen, führten nur sehr selten zum Ziel. Und so blieb / ist die Vermittlung von Substitutionspatient*innen an psychotherapeutische Praxen weiterhin „Glückssache“. Das ist höchst unbefriedigend, da es dafür keine rationale Begründung gibt!

Ja, es handelt sich um schwer mehrfacherkrankte, fehlsozialisierte, nicht selten durch „herausforderndes Verhalten“ auffällige Menschen, worauf man sich aber einstellen kann. In drei Spezial-Einrichtungen unter dem Label „Ambulanz für Integrierte Drogenhilfe (A.I.D.)“ sowie in Kooperation mit diversen Schwerpunktpraxen arbeitet der Notdienst mit einer Klientel, die bei manchem als „schwerstabhängig“, „therapieresistent“, „nicht wartezimmerfähig“, „nicht verabredungsfähig“ und „nicht vermittlungsfähig“ gilt. Jedoch selbst von diesen Patient*innen können nicht wenige gut stabilisiert werden. Die abgestimmt mit der medizinischen Versorgung laufende intensive psychosoziale Betreuung stellt im Hinblick auf Antritt und Durchhalten einer Psychotherapie einen stark begünstigenden Faktor dar. Unterstützung in Sachen Verbindlichkeit und Alltagsbewältigung ist engmaschig gewährleistet, das ist geradezu luxuriös!
Ungeachtet all dessen bleiben Psychotherapeut*innen in Berlin und Umgebung bis auf wenige Ausnahmen konsequent abstinent, was den Kontakt zu substituierten Menschen betrifft. Ihre Aversion basiert in der Regel nicht auf unangenehmen Erfahrungen, sondern auf ideologischen Konstrukten (So heißt es: Substituierte passen nicht ins Setting, stellen wirtschaftlich Risikofälle dar und seien wegen ihrer Medikation ohnehin nicht therapierbar…). Man kann es besser wissen und dadurch auch besser machen (und umgekehrt):

Es geht doch!
Angelika Koshal, eine Bonner Kollegin, führt bereits seit 1993 (somit ein Vierteljahrhundert lang!) ambulante Psychotherapie mit substituierten Drogenabhängigen durch, seit vielen Jahren mit Trauma-Schwerpunkt! Dabei arbeitet sie mit einem vielfältigen Methodenspektrum. Sie ist Mitglied der Fachkommission Sucht der Psychotherapeutenkammer NRW und nutzt jede Gelegenheit, ihre umfassenden Erfahrungen öffentlich vorzustellen und damit für die Arbeit mit Substitutionspatient*innen zu werben, so auch in diesem Jahr wieder bei den Suchttherapietagen in Hamburg. Auf ihr Konto gehen wichtige Fachpublikationen. Vor fünf Jahren erschien ein äußerst aufschlussreiches Interview mit Frau Koshal im Rundbrief der Psychotherapeutenkammer NRW: https://www.ptk-nrw.de/de/mitglieder/publikationen/ptk-newsletter/archiv/ptk-newsletter-sucht/chancen-der-psychotherapie-interview-mit-angelika-koshal.html Welche Wirkung damit im Einzelnen hinterlassen werden konnte, ist nicht gewiss. Auch in Bonn blieb die Praxis von Frau Koshal ein „Leuchtturm“. Berlin täte ein vergleichbares good-practice-Beispiel gut, wenn es ringsum nicht weiter so dunkel wäre. Auch in dieser Stadt gibt aber es inzwischen wichtige Stimmen, die zur Veränderung aufrufen:

Maßgebliche Feststellungen aus Berlin
Matthias Brokmeier, in Kreuzberg niedergelassener Psychiater und Neurologe, hebt sich ab von der Berliner Psychiatrie-Szene, die – den Psychotherapeut*innen vergleichbar – möglichst auf Abstand bleibt, was Substituierte betrifft. (Am ehesten kommt es noch zu Berührungen mit dem Thema aus forensischer Gutachter-Perspektive.) Mehrere Jahre hat Matthias Brokmeier mit der Kreuzberger Ambulanz für Integrierte Drogenhilfe sehr eng kooperiert und dabei hunderte Substituierte intensiv kennengelernt. Einige Zeit hat er unter dem Ambulanz-Dach gearbeitet und auch selbst substituiert. Sein Statement basiert somit auf bester Information! :
Grundsätzlich benötigen fast alle Suchtkranken, auch Substituierte, Psychotherapie im Sinne einer Unterstützung beim gesünderen Umgang mit erlittenen seelischen Verletzungen. Schwere Traumata, zu denen es gerade bei dieser Klientel oft bereits in Kindheit und Jugend kam, führen zu komplexen Leidenszuständen sowie zu Verhaltensstörungen, die auch die Mitwelt massiv belasten können. Wenigstens halbwegs stabilisierte äußere Verhältnisse sind allerdings Voraussetzung dafür, dass Psychotherapie bei Suchtkranken denk- und machbar ist. Ein nicht durch Konsum dominierter und nicht gänzlich strukturloser Alltag wäre sehr von Vorteil. Die nicht selten zu hörende Idee „Ich muss erst gesundtherapiert werden, um arbeiten zu können“ etabliert einen Teufelskreis. Seitens der Therapeut*innen ist neben unendlicher Geduld, die Bereitschaft gefragt, „kleine Brötchen zu backen“ und sich furchtlos fürchterliche Geschichten erzählen zu lassen. Und: es muss ausgehalten werden, dass diese Patient*innen eine Therapie womöglich nur kurze Zeit durchhalten.

Dr. med. Katrin Körtner, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, ist Oberärztin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Jüdischen Krankenhauses Berlin. Sie vereint seit vielen Jahren auf hohem Niveau Sucht- und Trauma-Expertise und wirkt vielfältig engagiert, auch in diversen Fortbildungen, über den stationären Rahmen hinaus. Auch Notdienst-Mitarbeiter*innen, die mit Substitutionspatient*innen arbeiten, hat sie geschult, auch ihr Statement ist bestens informiert und mit einem Appell verbunden:
Viele substituierte Patienten, die zum Entzug von Alkohol, Heroin oder anderen Drogen in die Klinik kommen, sind erstaunt, wenn wir nach früheren und aktuellen Traumatisierungen und nach Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung fragen. Sie kennen diese Fragen nicht, sie wissen sehr wenig über geeignete psychotherapeutische Behandlungsmethoden, zeigen sich skeptisch oder ängstlich, trauen sich eine Psychotherapie nicht zu, geben an, erst das Substitut ausschleichen zu müssen und fragen eher nach Medikamenten. Letztlich geben diese psychisch oft schwer erkrankten Patienten nur den allzu einseitigen Blick des Versorgungssystems auf ihre Sucht wider. Wenn die Betroffenen zu Therapie und Selbstwirksamkeit ermutigt werden sollen, müssen auch die in der Gesundheitsversorgung Mitwirkenden, v.a. ÄrztInnen und PsychotherapeutInnen umdenken!

Dr. med. Thomas Peschel,
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Leiter von “Patrida”. Berliner Ambulanz für diamorphingestützte Behandlung, was er zum Thema beitragen kann und will:
Opiatabhängige Patienten leiden oftmals unter schwerwiegenden psychischen Störungen, die der Abhängigkeitserkrankung häufig voraus gehen. Hierzu zählen bspw. Persönlichkeitsstörungen und sogenannte Entwicklungstraumatisierungen. Darüber hinaus ist die Erkrankung hoch stigmatisiert. Diese zugrunde liegenden schwerwiegenden psychischen Störungen bedürfen neben der pharmakologischen Behandlung einer adaptierten Psychotherapie, welche die Patienten im Regelfall nicht erhalten. Neben den üblichen Vorurteilen der Unzuverlässigkeit und mangelnden „Wartezimmerfähigkeit“ existieren immer noch psychotherapeutische Dogmen, welche eine Behandlung „unter Medikation“ ausschließen. Diesbezüglich können wir von zeitgemäßen Ansätzen in der Psychiatrie lernen: auch hier galt beispielsweise lange die Grundüberzeugung, dass psychotische Störungen generell nicht mit Psychotherapie zu behandeln seien. Mittlerweile sieht hier eine leitliniengerechte Behandlung die Kombination von Psychopharmaka und Psychotherapie vor wie auch bei affektiven Störungsbildern bereits üblich. Mit entsprechend adaptierten Verfahren können dann oftmals im Behandlungsverlauf die Psychopharmaka reduziert oder ganz abgesetzt werden. Eine an das Störungsbild angepasste psychotherapeutische Vorgehensweise bei opiatabhängigen Patienten ist nach eigener Erfahrung äußerst hilfreich und zwingende Voraussetzung für eine erfolgreiche Rehabilitation und Resozialisation dieser psychisch schwer kranken und psychotherapeutisch unterversorgten Patientengruppe.

Prof. Dr. phil. Andreas Hamburger von der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU) Berlin wurde gefragt, wie es zu erklären sein könnte, dass Psychotherapeut*innen anscheinend unreflektiert den professionellen Kontakt zu Suchtkranken konsequent vermeiden. Antwort:
Eigene Therapie- und Supervisionserfahrung sowie die vorhandene psychoanalytische Fachliteratur zeigen, dass Suchtkranke oft starke Gegenübertragungen auslösen, die zwischen Selbstüberschätzung mit Rettungsphantasien, Enttäuschung und Ablehnung changieren. In der klassischen Psychoanalyse galten sie früher auch wegen ihrer Bündnisschwäche als kaum behandelbar. Seither hat sich aber viel getan; modifizierte psychodynamische Therapieverfahren wurden auch für andere als behandlungsresistent geltende Störungen, wie etwa schwere Persönlichkeitsstörungen, mit großem Erfolg entwickelt. Seit den 1970erJahren wurde in wichtigen Arbeiten die Psychodynamik der Abhängigkeit beschrieben, beispielsweise in Zusammenhang mit der Identitätsbildung, auch in gesellschaftlicher Dimension. Zudem wurden Vorschläge für einen hilfreichen Umgang mit solchen stark gespaltenen Gegenübertragungsreaktionen entwickelt.

Dazu empfiehlt er einen wirklich sehr lesenswerten Text von Marion Sonnenmoser aus dem Jahr 2013: https://www.aerzteblatt.de/archiv/39747/Psychoanalyse-bei-Suchtpatienten-Rechtzeitig-entgegensteuern – inhaltlich, dramaturgisch und sprachlich ein Juwel!

Kampagne oder Modelle? Am besten wohl beides…
Wie sollte umgegangen werden mit der gänzlich unbefriedigenden, menschliches Leid verlängernden und auf längere Sicht nicht wenig Geld kostenden Situation? Für die Zielgruppe und das Arbeitsfeld Suchthilfe zu werben, ist das Anliegen dieses Artikels. Wer sich aufmacht, in der eigenen Praxis, Erfahrungen mit Substitutionspatient*innen zu sammeln, darf seitens des Notdienstes mit Unterstützung rechnen. Parallel dazu führt der Weg womöglich aber über Modell-Projekte der integrierten Versorgung. Auch dabei kann die Berliner Psychotherapeutenkammer eine bedeutsame Rolle spielen. Frau Koshal zu einer Fortbildungsveranstaltung einzuladen, wäre ein schneller und unkomplizierter erster Schritt!

http://www.psychotherapeutenkammer-berlin.de/publikationen/kammerbriefe/10683221.html

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