Fachreview

rausch - Wiener Zeitschrift für Suchttherapie

15. März 2023

Meinungsbeitrag von Arthur Coffin, Leitung LogIn

In der letzten Ausgabe der Wiener Zeitschrift für Suchttherapie rausch setzten als Gastherausgeber unser Kollege Bernd Westermann sowie Annette Fröhmel und Holger Nieberg den thematischen Schwerpunkt des Heftes. Dabei wurde ein interessanter Ansatz gewählt. Langjährig erfahrene und gestandene Personen aus Theorie und Praxis, deren Bücher und Interventionstechniken uns schon im Studium sowie der täglichen Arbeit begegnet sind, sollten für uns in die Zukunft schauen. Ihr Auftrag: Horizonte erweitern!

Brauchen wir das? Man ist geneigt, diese Frage reflexartig zu bejahen. Wie oft erlebt man in der Suchthilfe auf Tagungen, in Gremien sowie Arbeitskreisen die Auferstehung totgeglaubter Diskurse, die sich zwischen Abstinenzgeboten und Harm Reduction abspielen? So steht uns z.B. auch der nächste große Prozess (die voranschreitende Aufhebung der Trennung von Alkohol- und Drogenberatungsstellen) ins Haus, bei dem das diesbezügliche Gespräch schon seit Jahrzehnten im Gange ist. Brauchen wir nicht vielmehr neue Horizonte, um die alten und angestrebten Horizonterweiterungen umzusetzen?

Was bringt uns eine Horizonterweiterung?

Hinter der Frage versteckt sich natürlich ein Appell, der da heißt: Raus aus dem Diskurs, rein in die Praxis! Denn, wer tagtäglich in der Suchthilfe arbeitet und wirkt, braucht Werkzeuge und Lösungsansätze. Welche Anregungen und Impulse aus dem Heft, ob sie nun neu oder wiederbelebt sind, können wir also für die Bewältigung unseres Tagesgeschäfts heranziehen? Schauen wir uns eine Auswahl der Angebote aus dem Heft an.

Aufgaben werden komplexer – Herausforderungen werden größer

Werkzeuge und Lösungsansätze, so viel ist sicher, werden dringend benötigt. Zu Recht weist Westermann im Vorwort auf die „Resignation angesichts multimorbider Menschen in behindernden Verhältnissen“ hin. Wir sind mit diesen Themen in der Praxis häufig konfrontiert, oft im Zusammenhang mit „Versorgungslücken“.

Wiederholt ringen wir diesbezüglich in unseren Teams und in Fallbesprechungen um den richtigen Kniff und die richtige Herangehensweise. Und immer öfter müssen wir uns diesbezüglich mit unserem eigenen Profil auseinandersetzen. Die Frage, die sich dabei zu ergeben scheint: Ist das noch Suchthilfe oder übernehmen wir zunehmend Aufgaben, für die eigentlich andere zuständig wären?

Vergangenheit als Ideengeber

Prävention rückt wieder stärker in den Fokus. In der Berliner Suchthilfe werden Beratungsstellen zukünftig vermehrt an die Schulen gehen. Bundesweit soll THC demnächst nicht mehr unter das Betäubungsmittelgesetz fallen, sondern als Genussmittel definiert werden. Prof. Dr. Hasso Spode schaut sich den Wandel des Risikoverständnisses am Beispiel der Prävention von Alkoholfolgeschäden an. Können wir mit Blick auf eine mögliche Legalisierung von THC seinem Text etwas entnehmen, was uns auf diese Situation vorbereitet?

Schon jetzt führt man in diesem Kontext Gespräche mit Betroffenen und Angehörigen, wie man sie womöglich im Zusammenhang mit Alkoholgebrauch führt. Hier ist eine Substanz, die gesellschaftlich anerkannt und auf dem Weg zur Legalität ist: Wie mit ihr verantwortungsvoll und leidreduziert umgehen? Ja, er hat einen Take-Away anzubieten, nämlich, dass Krisen (Pandemie, Krieg etc.) gesellschaftliche Polarisierung verschärfen, die sich dann auch auf die gesellschaftliche Wahrnehmung von Risiken und Herangehensweise an Prävention auswirken. Im Extremfall stehen sich Gesundheitsfanatismus und Ausschweifung gegenüber. Und das begegnet uns schon jetzt in den aktiven Fällen.

Einfachstes Beispiel: Besorgte Eltern und konsumierende Kinder (*ja, in der Praxis kommt auch der umgekehrte Fall immer häufiger vor). Wir müssen uns mehr und mehr auf Aufklärung und auch auf die Vermittlung von persönlich gewordenen (liebgewonnenen?) Grundhaltungen vorbereiten, ohne dabei zu sehr am eigenen Profil zu verlieren. Aber welche Techniken werden uns dabei helfen, von Polarisierung zurückzutreten? Und werden wir dabei eine Renaissance der Debatte um Möglichkeiten und Grenzen der Allparteilichkeit in der Suchthilfe erleben?

Spode benennt es zwar nicht, aber sein Text macht es deutlich: Jeder Wandel stellt auch unser berufliches Selbstverständnis in Frage und verlangt von uns, dass wir uns mit unserer Rolle auseinandersetzen. Die professionelle Rollenklarheit fordert auch Dr. Jörg Gölz, ehemalige ärztliche Leitung des Praxiszentrums am Kaiserdamm und einer der großen Wegbereiter der Berliner Suchthilfe im Zusammenhang mit Substitution sowie HiV/Aids-Behandlung, in seinem Beitrag.

Und was sagt Psychologe und Suchtforscher Joachim Körkel dazu??

Prof. Dr. Joachim Körkel legt den Finger gleich in die Wunde und benennt Probleme, die uns im Alltagsgeschäft fortwährend begegnen: „[…] das Fehlen einer konzeptionell ausgearbeiteten, flächendeckenden und evidenzbasierten Suchtprävention, die geringe und zu späte Inanspruchnahme suchtbezogener Hilfen, die Fixierung auf das Behandlungsziel der Abstinenz, die Nichtbeachtung der Suchtthematik in vielen Sektoren des Sozial- und Gesundheitssystems und den geringen Grad an digitaler Suchthilfe.“

Was problematisch ist und was aussteht, wird dabei gut durch den Autor im weiteren Verlauf des Textes beschrieben. Für uns sind das zum Teil alte Hüte. Gleichzeitig werden jedoch die benannten Themen in den nächsten Monaten und Jahren eine tatsächliche Eskalation erfahren. Ein sehr drängendes Problem der Berliner Suchthilfe ist z.B. der zunehmende Abbau von Entgiftungsbetten, der den Prinzipien der frühen Anbindung und des Behandlungserfolgs zuwider läuft.

Wirklich spannend und praxistauglich sind Körkels Erläuterungen zur ZOS (Zieloffenen Suchtarbeit). Hier liefert er uns förderliche Menschenbildannahmen, Grundhaltungen und methodische Vorgehensweisen, wie etwa der „Dreischritt zieloffenen Handels“.

Trauma – das oft vernachlässigte Thema im Alltag der Suchthilfe

Wir aus der Suchthilfe wissen schon längst, dass Sucht und Trauma oft Hand in Hand gehen. Die Zuspitzung dieser Tatsache erfuhren viele von uns, als wir uns für die Menschen während der Flüchtlingskrise in Europa (2015/2016) einsetzten. Viele Helfende erfuhren sekundäre Traumata, derart grausam waren die Geschichten, von denen die Menschen mit Fluchterfahrung berichteten. Dr. Christina Kayales hilft mit einem kurzen und prägnanten Überblick, uns dem Thema der kultursensiblen Traumaarbeit zu nähern.

Menschen mit Fluchterfahrung bleiben weiterhin eine große Herausforderung in der Suchthilfe. Ihre Zahl hat sich in Berlin von 2021 zu 2022 nahezu verdoppelt. Und auch das relativ neu entstandene Containerdorf am Tempelhofer Feld verhindert, dass wir die Brisanz des Themas aus den Augen verlieren. Die Fokusverschiebung, die Kayales vornimmt ist besonders interessant: Anstatt Kulturmerkmale zu stark in die Bewertung und Bearbeitung des Traumas hineinzunehmen, sollen wir uns als Zuhörende und Unterstützende mehr auf das individuelle (!) Gefühl der Fremdheit der Betroffenen konzentrieren, um emotionalisierende Stereotypisierung zu vermeiden.

Kinderschutz und Schwangerschaft

Kinderschutzengagierte werden in ihrer Haltung bestätigt: „Für Tausende Kinder und Jugendliche in Deutschland ist das eigene Zuhause kein sicherer Ort“ (Beckmann). Die Medizinstudierende Emily Layer fordert in ihrem Beitrag sogar, „Kinderschutz als verbindliches Ausbildungsthema in der Medizin“ zu verankern.

Für uns Fachkräfte ist sicherlich der Beitrag des Frauenarztes Dr. Jan-Peter Siedentopf und der Sozialpädagogin Manuela Nagel sehr spannend, die uns übersichtlich erklären, wie sich verschiedenen Substanzen im Schwangerschaftsverlauf und bei der Geburt auswirken. Selbst Mischkonsum wird hier in Rechnung gestellt.

Streetwork – Anwohner – Ordnungskräfte: Geht das gut?

Ja. Und wie das geht, das beschreiben Prof. Dr. Rita Hansjürgens und der Pädagoge sowie Leiter des Drogennotdienstes in Frankfurt am Main, Wolfgang Barth, in ihrem Beitrag eindrücklich. Vor allem der Kontakt mit der Polizei, auch wenn dieser sich in den letzten 20 Jahren spürbar verbessert hat, muss immer wieder aufs Neue gehegt und gepflegt (manchmal mit diplomatischem Nachdruck richtig gestellt) werden, ohne, dass wir dabei unsere Anwaltschaft für jene Menschen aus den Augen verlieren, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Ohne Vertrauen funktioniert die Arbeit in der Suchthilfe nicht.

In dem diesbezüglichen Beitrag wird aber auch eines klar: Derartige Arbeitsbeziehungen und Netzwerkbildungen bedürfen zum Teil jahrzehntelangen Einsatz und Engagement. Die größte Herausforderung scheint hierbei zu sein, Akteure jenseits der Suchthilfe davon zu überzeugen, dass Vertreibung und Verdrängung nicht der richtige Weg ist. Ein alter und neuer Hut zugleich. Diese Themen scheinen mit jedem neuen Kontaktladen sowie Konsumraum aufzutreten.

Der Beitrag lädt ein zum Weiterdenken: Um Ritualisierung sowie Wiederholung zu vermeiden, könnte es helfen, wenn Träger der Suchthilfe vor Implementierung niedrigschwelligen Angebote schon sehr früh auf die Anwohnerschaft sowie die Verantwortlichen der Ordnungspolitik zugingen. Dabei sollten sie nicht nur das Gespräch suchen, sondern versuchen, tatsächliche Arbeits- und Vertrauensbeziehungen aufzubauen.

Und wer kümmert sich um uns?!

Vor 45 (!) Jahren schrieb Schmidbauer über „Die hilflosen Helfer: Über die seelische Problematik der helfenden Berufe.“ Auch wenn Prof. Dr. Michael Klein und Dr. Udo Baer in ihren Beiträgen jenes Werk aus dem letzten Jahrhundert nicht zitieren, so scheint das Thema noch lange nicht abgegessen zu sein. Während Klein appelliert, fachliche Selbstfürsorge im Kontext psychosozialer sowie medizinischer Tätigkeit schon im Rahmen des Studiums thematisch zu vertiefen, versorgt uns Baer mit handfesten Tipps und Tricks, wie Selbstfürsorge in der Suchthilfe gelingen kann.

Eindrücklich deutet er an, wie sich die Hilf- und Hoffnungslosigkeit der Betroffenen auf die Fachkräfte in der Suchthilfe vor Ort übertragen: „Die Folgen sind oft, dass manche Fachkräfte in der Suchthilfe verbittern oder verhärten oder aber sich noch mehr anstrengen, indem sie streng mit sich sind und deutlich über ihre Grenzen hinweggehen.“ Von diesen beiden Autoren ist es dann nicht mehr weit zu den Phänomenen der Übertragung sowie therapeutischen Verstrickung. Und auch nicht weit zur Frage: Ab wann verhalten sich Fachkräfte der Suchthilfe süchtig?

Fazit

Will man Horizonte erfolgreich erweitern, sollte man die Neuerfindung des Rads vermeiden. Dazu bedarf es einen Rückgriff auf Geschichte. Hier haben die Autorinnen und Autoren ganze Arbeit geleistet, ohne dabei den Blick für Gegenwart und Zukunft zu verlieren. Alle Beträge sind spannend und liefern gute Impulse sowie Tools für die praktische Arbeit ab.

Das Heft macht jedoch auch nachdenklich. Die alten Themen, die auch hier immer wieder auftauchen, haben nicht an Brisanz ab-, sondern eher zugenommen (Mischkonsum, Trauma, therapeutische Verstrickung u.v.m.). Müssen wir akzeptieren, dass sich auch Suchthilfegeschichte ständig wiederholt? Oder wollen wir damit anfangen, Bestandsaufnahmen und zarte Zukunftsperspektiven horizonterweiternd zu nutzen?

Die Antwort liegt sicherlich irgendwo dazwischen und diese Ausgabe der rausch macht Lust auf eine weiterführende Auseinandersetzung in der Fachwelt der Suchthilfe.

Die besprochene Ausgabe (elektronischer Version und Printausgabe) ist hier erhältlich: https://www.pabst-publishers.com/zeitschriften/zeitschriftenliste/rausch/rausch-erschienen.html

Hinweis der Herausgeber*innen: Namentlich gekennzeichnete Beiträge spiegeln die Meinungen der Autoren und Autorinnen wider.
Sie repräsentieren nicht unbedingt die Ansicht des Herausgebers.

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